Vorurteile und Diskriminierung
bei Übergewicht und Adipositas

Ungerecht, wissenschaftlich nicht korrekt und gesundheitsschädigend für die Betroffenen.

Hochgewichtige Menschen sehen sich häufig Stigmatisierungen, Vorurteilen und Diskriminierungen aufgrund ihres Körpergewichtes ausgesetzt. Eine wesentliche Ursache für diese negative Haltung gegenüber den Betroffenen scheint in der falschen Annahme zu liegen, dass das Körpergewicht nur eine Sache von Kalorienaufnahme und Kalorienverbrauch ist und Übergewicht und Adipositas aus Unmäßigkeit, Bequemlichkeit und mangelnder Selbstdisziplin resultieren. Eine international anerkannte Expertengruppe hat im März 2020 mit Unterstützung von 10 wissenschaftlichen Partnergesellschaften ein klares Statement gegen diese, aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbare Einstellung gesetzt und fordert auf breiter gesellschaftlicher Basis Maßnahmen zu setzen, um die Stigmatisierung bei Adipositas zu beenden.

Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts ist eine der häufigsten Formen der Diskriminierung in modernen Gesellschaften. Sie trifft Menschen in unterschiedlichsten Lebensbereichen, wie Ausbildung, Beruf und Gesundheitswesen.

Dieser Diskriminierung liegen Stigmatisierungen und Vorurteile (siehe Kasten „Definitionen“) gegenüber hochgewichtigen Personen zugrunde, welche auf der inkorrekten Annahme beruhen, dass das Körpergewicht einfach durch eine willentliche Entscheidung zur Veränderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens zu kontrollieren ist. Diese Ansicht steht aber im Widerspruch zu einer großen Anzahl aktueller Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die Entwicklung des Körpergewichts von sehr vielen externen, also außerhalb der Person gelegenen, Faktoren abhängig ist: Genetik, Umwelt und soziales Umfeld sowie Medikamente sind für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas von zentraler Bedeutung. Dabei handelt es sich also um Einflussgrößen, die definitiv nicht zur Gänze im willentlichen Einflussbereich einer Person liegen. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Lebensstil-Interventionen wie Einschränkung der Kalorienzufuhr und ein höheres Ausmaß an körperlicher Aktivität nur selten zu einer langfristigen Reduktion des Körpergewichts führen, da es als Reaktion auf solche Maßnahmen zu komplexen Anpassungsreaktionen im Bereich des Hormonhaushaltes und des Stoffwechsels kommt, die darauf ausgerichtet sind, dem Gewichtsverlust entgegenzuwirken. In anderen Worten: Die Veränderung des Körpergewichtes bedeutet eben nicht „einfach nur weniger zu essen und sich mehr zu bewegen“!

Die wissenschaftliche Datenlage zeigt auch deutlich, dass Stigmatisierung, Vorurteile und Diskriminierung bei den Betroffenen nicht nur zur Beeinträchtigung der psychischen, sondern auch der körperlichen Gesundheit führen, vor allem dann, wenn diese von den Betroffenen verinnerlicht werden. In diesen Situationen kommt es dann häufig zu psychischem Stress und die Situation noch verstärkenden Verhaltensreaktionen wie sozialem Rückzug, Vermeidung körperlicher Aktivität, Zunahme des ungünstigen Ernährungsverhaltens oder dem Meiden des Kontaktes mit medizinischem Fachpersonal.

Vor diesem Hintergrund haben 36 international anerkannte Experten mit Unterstützung von 10 wissenschaftlichen Partnergesellschaften die zur Verfügung stehende Datenlage begutachtet und die Ergebnisse in Form eines „Internationalen Konsensus-Statements zur Beendigung der Stigmatisierung bei Adipositas“ im renommierten Wissenschaftsjournal „Nature Medicine“ veröffentlicht. Ziel dieser Publikation ist es, Politik, Angehörige der Gesundheitsberufe sowie die Öffentlichkeit über die komplexen Zusammenhänge bei der Entstehung der Adipositas nach aktuellem Wissensstand zu informieren und die Situation der betroffenen hochgewichtigen Menschen zu verbessern. Die Expertengruppe hat zudem ein Bekenntnis zur Beendigung der Stigmatisierung der Adipositas verfasst.

Das Bekenntnis zur Beendigung von gewichtsbezogenen Vorurteilen und Stigmatisierung bei Adipositas (aus dem Internationalelen Konsensus-Statement, März 2020):

Es wird nach Prüfung der wissenschaftlichen Datenlage folgendes festgehalten:

  1. Von Übergewicht oder Adipositas betroffene Menschen sind einer tiefgreifenden Form sozialer Stigmatisierung ausgesetzt. Diese Stigmatisierung geht von der unbewiesenen Annahme aus, dass die Ursache für das Körpergewicht der Betroffenen in einem Mangel an Selbst-Disziplin und persönlicher Verantwortung gründet.
  2. Eine derartige Darstellung steht im Gegensatz zur aktuellen wissenschaftlichen Forschung. Diese zeigt, dass die Regulation des Körpergewichtes nicht alleine durch Willenskraft zu steuern ist, sondern dass biologische, genetische und Umweltfaktoren eine kritische Rolle in der Entstehung der Adipositas spielen.
  3. Gewichtsbezogene Vorurteile und Stigmatisierung können zu Diskriminierung führen und die Menschenrechte, soziale Rechte und die Gesundheit der Betroffenen untergraben.
  4. Gewichtsbezogene Stigmatisierung und Diskriminierung können in einer modernen Gesellschaft nicht toleriert werden.

Alle Formen stigmatisierender Haltung, Sprache, bildlicher Darstellung und Regelwerke sind zu verurteilen.

Im Bekenntnis zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Adipositas wird gefordert:

  1. Menschen mit Übergewicht oder Adipositas mit Würde und Respekt zu behandeln.
  2. stereotypische (schubladisierende) Sprache, bildliche Darstellungen und Berichterstattungen, welche Menschen mit Übergewicht oder Adipositas unrichtigerweise als faul, unmäßig und willensschwach darstellen, zu unterlassen
  3. Initiativen zu fördern, die zum Ziel haben, gewichtsbezogene Vorurteile durch Erhöhung des dem Forschungsstand entsprechenden Wissens über Adipositas und Gewichtsregulation zu beseitigen.
  4. Initiativen zu unterstützen, die zum Ziel haben, gewichtsbezogene Diskriminierung im Rahmen der Ausbildung, am Arbeitsplatz und im Gesundheitswesen zu verhindern.

Das Expertengremium ruft Organisationen und Einzelpersonen auf, sich diesem Bekenntnis unter https://www.kcl.ac.uk/research/obesity-pledge anzuschließen.

Ich habe dies aus medizinischer und psychotherapeutischer Überzeugung und einem zutiefst empfundenen menschlichen Bedürfnis gerne getan. Schließen Sie sich an!

Herzlichst Ihr

Dr. Christian Tatschl

 

Referenzen:

Rubino F et al. Joint international consensus statement for ending stigma of obesity. Nat Med. 2020 Mar 4. [Epub ahead of print]

Editorial. Ending weight bias and the stigma of obesity. Nat Rev Endocrinol. 2020 Mar 10 [Epub ahead of print]

DEFINITIONEN:

Gewichtsbezogenes Stigma:
Stigma bedeutet Kennzeichen oder Brandmal. Unter Gewichtsstigma versteht man soziale Abwertung und Verunglimpfung von hochgewichtigen Personen aufgrund ihres Körpergewichtes. Dies kann zu negativen Einstellungen, Verallgemeinerungen, Vorurteilen und Diskriminierung führen.

Gewichtsbezogene Stereotype:
Umfassen Verallgemeinerungen, die hochgewichtige Personen als faul, maßlos, mit einem Mangel an Willenskraft und Selbstdisziplin ansehen. Solche Stereotype betrachten hochgewichtige Personen als unmotiviert bzw. inkompetent, ihre Gesundheit zu verbessern oder gehen davon aus, dass die Betroffenen sich nicht an ihre medizinische Behandlung halten und daher persönlich für ihre Situation verantwortlich zu machen sind.

Gewichtsbezogene Diskriminierung:
Bezeichnet offen Formen von gewichtsbezogenen Vorurteilen und die unfaire Behandlung von hochgewichtigen Personen.

Internalisiertes Stigma:
Dabei werden Stigmatisierung und Schuldzuweisung von den Betroffenen verinnerlicht und für zutreffend erklärt. In der Folge beginnen die Betroffenen, die gegen sie gerichteten negativen Einstellungen zu übernehmen und als zutreffend anzuerkennen und gegen sich selbst zu richten. Dies führt zu Gefühlen des „Schuld seins“ und zur Selbstabwertung.

Explizite Vorurteile:
Bezeichnet eine offene Voreingenommenheit, derer man sich bewusst ist.

Implizite Vorurteile:
Voreingenommenheit und Stereotypen, die man hegt, ohne dass man sich ihrer bewusst ist.